Sonntag, 19. November 2017

Rezension zu Reinhold Vetter: Nationalismus im Osten Europas

Vetter, Reinhold (2017), Nationalismus im Osten Europas. Was Kaczynski und Orban mit Le Pen und Wilders verbindet, Ch.Links Verlag, Berlin (oder als Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 10082, Bonn).

Rezension

Autor: Christian Sus

Inhalt des Buches im Überblick

Der Publizist Reinhold Vetter, über viele Jahre Korrespondent in Budapest und Warschau, beschreibt mit seiner Bestandsaufnahme des Nationalismus in Mittel- und Osteuropa die sich verändernde politische und gesellschaftliche Lage. Dabei stehen nationalkonservative, populistische und rechtsradikale Parteien im Zentrum, die schon über politische Macht in Gestalt von Regierungsbeteiligung verfügen.

Ausführlich geht er auf die Situation in den Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakei ein, etwas knapper werden Kroatien, Slowenien und die baltischen Staaten behandelt. Außerdem werden Vergleiche zu nationalistischen Strömungen in den westlichen Ländern der EU gezogen. Er selbst schreibt dazu:
„... besorgniserregende Nachrichten haben aber schon gezeigt, dass wir es bei dem Erstarken des Nationalismus in Europa keineswegs nur mit einem Phänomen im Osten des Kontinents zu tun haben. Deshalb wird nach der Bestandsaufnahme auch versucht, rechte Parteien in Ost und West miteinander zu vergleichen, ihre Übereinstimmungen und Differenzen zu analysieren“ (S. 10).
Den Abschluss des Buches bildet ein Plädoyer dafür, „die dringend notwendige breite öffentliche Debatte über die Zukunft Europas und besonders der Europäischen Union auf jeden Fall gesamteuropäisch zu führen“ (S. 11). Reinhold Vetter referiert in diesem Zuge einige Anregungen von Wissenschaftlern (wie z.B. Jan-Werner Müller), Publizisten und auch eigene Positionen.


Länderanalysen

Polen

In Polen verfolgen die Nationalkonservativen mit der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) einen Kurs, der das seit 1989 geschaffene Institutionengefüge durch einen zentralisierten Staat mit autoritären Zügen ersetzen will. Wesentliche Elemente sind dabei die systematische Schwächung des Verfassungsgerichts und eine Medienpolitik, die sich mit der Einheit von Katholizismus, Nation und Staat explizit von den Standards einer demokratischen Moderne absetzt.
„Angeführt von ihrem charismatischen Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski kamen die polnischen Nationalkonservativen im Herbst 2015 bereits zum dritten Mal seit dem Systemwechsel im Jahr 1989 an die Macht.“ (S. 22)

Ungarn

Auch in Ungarn spielt die rigide, gegen oppositionelle Positionen gerichtete Medienpolitik eine wichtige Rolle auf dem Weg in die „illiberale Demokratie“ des Ministerpräsidenten Viktor Orbán, bei der seine Partei Fidesz eng mit der rechtsradikalen Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik) zusammenarbeitet. Mindestens in der Rhetorik kommt hier einer machtpolitisch instrumentalisierten Geschichtspolitik noch größeres Gewicht zu als in Polen. Im Versprechen der Fidesz-Regierung, Ungarn wieder zu politischer und kultureller Bedeutung verhelfen zu wollen, schwingt die kollektiv als Schmach erlebte dramatische Verkleinerung des ungarischen Territoriums nach der Niederlage der habsburgischen Monarchie im Ersten Weltkrieg mit. Die Medien sind bis auf wenige Ausnahmen in der Hand der Partei Fidesz, aber auch Firmen und Schulen werden durch Anhänger der Partei Victor Orbans zu politischen Instrumenten.

Slowakei

In der Slowakei, unabhängig seit 1993, hat die Parlamentswahl 2016 die bisher proeuropäischen Parteien erheblich geschwächt und rechte Gruppierungen von Neoliberalen, radikalen Nationalisten und Rechtsextremen nahezu gleich stark werden lassen. Allerdings ist die Slowakei über ihre Zugehörigkeit zur Eurozone stärker in die Europäische Union integriert als die anderen Visegrád-Staaten.

Tschechische Republik

In der Tschechischen Republik betreibt der (direkt gewählte) sozialdemokratische Staatspräsident Milos Zeman eine von Antiintellektualismus und Fremdenfeindlichkeit geprägte, explizit populistische Politik, die sich in Tiraden gegenüber der Europäischen Kommission gefällt und Verständnis für Russlands Annexion der Krim demonstriert. Anders aber als in Ungarn oder Polen sind in der Tschechischen Republik noch keine Tendenzen eines Abbaus demokratischer Institutionen erkennbar.

Staaten des Baltikums und Slowenien

Das Gleiche gilt für die Staaten des Baltikums und Slowenien, in denen (trotz eher zersplitterter Parteiensysteme) demokratische Verfahren regelhaft funktionieren, allerdings erhebliche Probleme im Umgang mit ethnischen Minderheiten (z.B. Roma) bestehen.

In seiner knappen Deutung der Anziehungskraft des Nationalismus in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas verweist Vetter in zweierlei Hinsichten auf die Besonderheiten der historischen Räume. In sozioökonomischer Perspektive führte die von nationalen Eliten betriebene Systemtransformation mit der Einführung von Marktprinzipien bei vielfach undurchsichtigen Privatisierungen staatlicher Unternehmen und schwachen Sozialsystemen zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten und in der Folge zu Abwanderungen in durchaus dramatischem Umfang.

In kultureller Perspektive werden derartige Verwerfungen leicht als Verletzungen kollektiver Identitäten erlebt und begünstigen geschichtspolitische Beschwörungen ethnischer Homogenität als Beweis nationaler Stärke. Für Vetter ist damit nicht nur die von den osteuropäischen Mitgliedstaaten betriebene Blockade einer europäischen Flüchtlingspolitik zu erklären, sondern auch die erkennbar geringe Bereitschaft, sich im Zuge einer angemessenen Erinnerungskultur auf die jeweils eigene Geschichte (zumal während der deutschen Besetzung) zu beziehen. Der latente Antisemitismus in Polen und Ungarn sei dafür ein Beleg.

Vergleich von Ost-und Westeuropa

Der Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen west- und osteuropäischen Populisten zeichnet laut Vetter ein widersprüchliches Bild. Übereinstimmungen auf ideologischer Ebene finden sich schnell, dazu zählen Glorifizierungen von nationaler Homogenität, Traditionswerten und partikularen Leitkulturen einerseits und andererseits die Abwehr alles Fremden, sei es in Gestalt von Flüchtlingen, sei es in Gestalt eines kulturellen oder religiösen Pluralismus.

Auch die stereotype Kritik dessen, was als Brüsseler Bürokratie gilt, und der populistische Gedanke, die wirklichen Interessen des vermeintlichen Volkes gegenüber den politischen Eliten zu vertreten, lässt sich gleichermaßen bei einschlägigen Parteien in West- wie Osteuropa beobachten. Allerdings steht ein EU-Austritt (wie vom Front National oder der Dansk Folkeparti verlangt) nicht auf der Agenda der osteuropäischen Nationalisten.

Die Haltung gegenüber russischer Großmachtpolitik fällt in Polen und den baltischen Staaten anders aus als in Ungarn oder der Tschechischen Republik. Vetter lässt es offen, ob diese Unterschiede primär von Interessenlagen bestimmt sind oder ob sich auch darin Besonderheiten historischer Räume geltend machen. Stattdessen plädiert er für eine stärker analytische Sichtweise, die den Nationalismus als gesamteuropäisches Problem begreift.

Dem kann man sicher zustimmen. Allerdings bleibt bei Vetter der Zusammenhang zwischen den „tieferen Hintergründen der Krise der EU“ (S. 200) und dem Erstarken nationalistischer Strömungen sehr pauschal und geht über die schon bekannten Einwände gegen aktuelle Defizite der europäischen Integration nicht hinaus.

Fazit

Die populistischen Tendenzen innerhalb der Europäischen Union sind unübersehbar. In der Folge der Finanzkrise verstärkten strukturelle ökonomische Ungleichgewichte die unterschiedlichen Interessenlagen von nördlichen und südlichen Mitgliedstaaten, im Umgang mit der Flüchtlingskrise werden kaum zu überbrückende Unterschiede in den Positionen west- und osteuropäischer Gesellschaften deutlich und schließlich haben mit nationalistischen und rechtspopulistischen Strömungen EU-weit Akteure Auftrieb, die ein Ende des Projektes Europa verfolgen.

Ob eine breit geführte Debatte über die Probleme der verschiedenen populistischen Strömungen im Osten und Westen der richtige Lösungsweg ist, ist zu bezweifeln. Dennoch ist ein Handeln wichtig und wenn bis dahin Aufklärung und Debattieren das einzige Mittel gegen rechtspopulistische Strömungen ist, so sollte von diesem Instrument Gebrauch gemacht werden. Doch auch die geschichtlichen Hintergründe und Spaltungen wie z.B. zwischen Serbien und Kroatien führen immer wieder zu schweren Missverständnissen und Problemen innerhalb der EU.

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